Christival 2008

Christlicher Fundamentalismus vs. Evangelikalismus

Eine Abgrenzung aus evangelikaler Sicht

Christival BannerZu einem hochwichtigen Aspekt: Der Abgrenzung von evangelikalen Glaubensauffassungen und Glaubensgemeinschaften auf der der einen und fundamentalistischen auf der anderen Seite, die meist in einen Topf geworfen werden, hielt Wolfgang Buck, Pastor der Freien evangelischen Gemeinde Extertal, ein grundsätzliches Referat. Buck verstand seine Ausführungen als eine Orientierungshilfe, wobei er ausdrücklich betonte, nur als „Ersatz“ für Professor E. Geldbach eingesprungen zu sein, dessen Ankündigung bereits im Vorfeld für einigen Aufruhr gesorgt hatte. Damit spiele ich auch auf die umstrittene Berufung des letzteren als Professor 1997 an der Universität Bochum an, wo er als Baptist bis zu seiner Emeritierung den Lehrstuhl für Ökumene und Konfessionskunde inne hatte.

BuckDoch was führte Buck nun zu diesem Thema aus, welches für die Presse kurzfristig als gesperrt deklariert wurde? Sein klar strukturierter Vortrag, versehen mit einschlägigen Quellen- und Literaturangaben, setzte ein hohes Maß an Konzentration und Grundwissen voraus. Da war es nicht weiter verwunderlich, dass in der kurzen Diskussion danach Studenten der Theologie, auch der verschiedenen evangelikal ausgerichteten theologischen Seminare, ihre Schwierigkeiten hatten.

Zur Einstimmung ließ Buck eine Revue „willkürlicher“ Fundamentalismen in Europa passieren; so z.B. die Gleichschaltung und die rücksichtslos ausgeführte Vorstellung des Einheitsmenschen in der ehemaligen UdSSR mit all ihren heutigen Problemen von völlig durcheinander gewirbelten Ethnien in den neu entstandenen Republiken.

Seine Definition des schillernden Begriffs Fundamentalismus setzte folgendermaßen an: „Fundamentalismus ist die Angst, das Fundament zu verlieren“. So weit, so klar – ausgelöst durch neue Ideologien und „Wertegemeinschaften“. Die Globalisierung führte nach seinen Worten zu einer Rückwärtsorientierung. Die einfache Lösung der heutigen Probleme werde mit Antworten aus dem Gestern versucht. Die um sich greifende Orientierungslosigkeit produziere Freund/Feind-Schemata, die dann als Lösung gelten sollen.

Der Fundamentalismus stehe in einem grundsätzlichen Gegensatz zu der evangelikalen Bewegung, da er die Absolutsetzung der Glaubensideologie in Verbindung mit Machtstrategien verfolge. Eine konstruktive Auseinandersetzung sei – auch durch das agitatorische Verhalten der Fundamentalisten – unmöglich. Pluralität, so sein weiterer Gedankengang, ist ihnen völlig verloren gegangen; Sektiererei begleitet von brutalen Unterdrückungsmechanismen (etwa: Colonia Dignidad; Jugenderweckungsbewegungen im Sauerland, die in einer Sekte mündeten) seien an der Tagesordnung. Luther hätte in diesem Klima nie die Tür, die aus den Denkstrukturen des Mittelalters hinaus führen, aufstoßen können.

Zusammenfassend brachte Buck „das Wirkprinzip fundamentalistischer Durchdringung der Gesellschaft“ auf die griffige Formel: „Penetranz – Akzeptanz – Relevanz“, das sich durchaus auch auf die heutige Klimakatastrophendebatte übertragen lassen könne.

Zum Grundverständnis des vagabundierenden Begriffs Fundamentalismus gehörte ein Blick auf die USA (wobei hier seine Ausführungen über Fundamentalismus im Islam, den er im islamischen Verständnis von Ehre verortet, übergangen werden).

Als der Geburtsort des Begriffs Fundamentalismus seien die USA anzusehen, da sie unter dem Nichtvorhandensein eines „Urmythos“, der staatstragenden Charakter besitzt, leiden. Buck denkt meiner Ansicht nach dabei an die Absenz eines Gründungsheros, wie ihn die Antike, etwa in der Person eines Aeneas oder Romulus, kennt. Bis heute haben diese in ihrer Wirkmächtigkeit in staatstragenden, nationsstiftenden sowie lokalen Bereichen nicht an Bedeutung verloren. Die USA dagegen hätten einen Urmythos aus sich selbst heraus kreieren müssen. Die im 17. Jahrhundert dort eingewanderten Puritaner hätten sich der europäischen Urgeschichte bedient, sie mit dem Auszug der Israeliten aus Ägypten parallelisiert, um so als das „Neue Israel“ zu gelten. Die Folge in ihrem Selbstverständnis: Sie sind „Gods own country“ und „Gods own people“. Doch Buck lehnte klar ab, dass sich Heilsgeschichte auf diese Art parallelisieren ließe. Die offensichtliche Verbindung von Staat und Kirche leiste dem Fundamentalismus und seinem „Sendungsbewusstsein“ Vorschub.

Buck äußerte sich auch zu den einschlägigen Begrifflichkeiten: Dispensationalismus, Prä- und Postmillennialismus; außerdem zu Freimaurern und Logen. Seine Ausführungen führen an dieser Stelle zu weit. [1] Auch in diesen Lehren spielen aber die fundamentalistischen Grundsätze, wie „die Bibel irrt nicht“ eine zentrale Rolle. So stellte sich Buck eine einfache Gleichung: Die USA betrachteten sich als das Ziel; Europa mit seiner Pluralität, mit den damit verbundenen Problematiken, deutete er als den Prozess. Die Verbindung von Glaube und Politik in den USA böte nach seiner Ansicht gehörigen Zündstoff, da durch das Attentat am 11. September 2001 der konstruierte Urmythos beschädigt worden sei. Folglich könne es so sogar zu einem Kollaps der USA kommen.

Doch die zentrale Frage laute: Fundamentalisten und Evangelikale – Worin besteht der Unterschied, die Abgrenzung? Für Buck stand eines vollkommen fest: Evangelikale Christen sind keine Fundamentalisten, denn sie kennen kein Machtstreben und keinen Absolutismus; allerdings gäbe es auch fließende Grenzen. Das wären die „Grautöne“, die ein reiner Fundamentalist nicht aushalte. Aber wie stünde es mit der Verbalinspiration der Bibel? Dies wer eine zentrale Frage im Anschluss des Vortrages. Die er nicht anders als im Referat klarstellte: Ja, es handele sich um Gottes Wort, doch es sei durch viele Abschriften hindurch gegangen und bearbeitet worden. Es stehe aber jenseits allen Zweifels, dass sie aus Gottes Hand empfangen worden ist. Wenn ein Fundamentalist behaupte „the Bible says“, dann hätte er den Boden der Realität verlassen. Genau dieser Standpunkt war Topos in der Diskussion, als etwa eine Studentin eines theologischen Seminars aus Dresden die Verbalinspiration einklagte. Als Reaktion riet er ihr zu einem genauen Lesen, sich mit anderen Bibelzugängen, z.B. der historisch-kritischen Untersuchungsmethode, auseinanderzusetzen und sich nach ausführlichem Studium ein Urteil zu bilden.

Israel, das letzte Thema seines Referats vor einer Gegenüberstellung, bildete das Zentrum für den Unterschied. Während Fundamentalisten Endzeitkarten des Schlachtfeldes von Armageddon erstellten, israelzentriert arbeiteten und jede Aktion des Staates gut heißen würden, gingen die Evangelikalen von Röm. 8–11 aus: Auch Juden brauchen Christus als den Messias. So entstünde eine Spannung zwischen Freiheit und dem Evangelium, die man aushalten müsse.

Hier wage ich eine Gegenüberstellung beider Glaubensmodelle in Anlehnung an das Referat:


Fundamentalisten
  • Keine Zulassung wissenschaftlicher Forschung
  • Vergötterung der Heiligen Schrift
  • Schwarz/Weiß Denken
  • Defizite in der seelischen Grundbestimmung = psychologisches Problem
  • Luther Missverständnis: homo religiosus wolle securitas
Evangelikale
  • Offen für wissenschaftliche Forschung
  • Bibel: Anerkennung der menschlichen und kulturellen Dimensionen im Bezug auf Kontexte und Duktus
  • Aufgeschlossenheit für alle Kontakte
  • Im Konsens mit Luther: securitas kann es nicht geben, sondern anstelle derer certitudo

Soweit zu den Ausführungen von Pastor Buck: Ein kompaktes und fundiertes Seminar eines Repräsentanten der evangelikalen Bewegung, der durchaus differenziert mit der Fundamentalismusfrage umgeht. Doch es gab auch eine klare Aussage hinsichtlich der Abgrenzung und der Diskussionsfreudigkeit gegenüber Fundamentalisten: Diese seien in ihrem schwarz/weiß Denken vollkommen konfliktunfähig. Da gäbe es nur eine einzige Folgerung: Streitverweigerung.

Fazit: Ein hoch spannendes und provokatives Seminar im Cinemaxx im Rahmen des Christivals 2008 in Bremen. Die Grenzen zwischen „evangelikal“ und „fundamentalistisch“ sind fließend, werden aber auch als Trennung wahrgenommen. Heilsplanorientierte und endzeitplanzentrierte Bewegungen und Missionsgruppen können durchaus der einen oder andern Seite zugerechnet werden. Auf der MMM waren einige Institutionen mit der Botschaft eines göttlichen Endzeitplans vertreten, die, was dem Referenten vollkommen bekannt war, dort trotz ihrer fundamentalistischen Ausrichtung ihren Platz gefunden hatten. Im Interesse ihrer Glaubensvorstellungen scheinen evangelikale Bewegungen tendenziell mit fundamentalistischen Gruppierungen und Aktivisten (noch?) eine gemeinsame Plattform zu nutzen zu wollen. War der Referent eine Ausnahme?

Ein Nachtrag zum Thema vom EKD-Ratsvorsitzenden Bischof Huber, der in einer Christival Pressemitteilung vom 3.5.2008 so zitiert wird:

Ich halte das [Anm.: Den Vorwurf, fundamentalistische Gruppen hätten das Christival veranstaltet] für eine verkürzte Darstellung, die nicht gerade von der nötigen Sachkenntnis zeugt. Evangelikal und fundamentalistisch gleichzusetzen widerspricht meiner Lebenserfahrung. Genauso wie es falsch ist, bei Evangelikalen an Neuimporte aus Amerika zu denken. Was man heute evangelikal nennt, ist vor allem im Pietismus verankert. Der Pietismus ist eine landeskirchliche Bewegung, die von uns ausdrücklich bejaht wird. Die etwa 1,4 Millionen evangelikaler Christen bringen eine große Lebendigkeit in unsere Kirche. Darüber hinaus engagieren sich diese Christen in besonderer Weise.

Für den Evangelischen Kirchentag 2009 in Bremen lässt sich aufgrund der Sensibilisierung der Öffentlichkeit für religiöse Glaubensvorstellungen, die sich in einer Flut von Leserbriefen in den lokalen Tageszeitungen dokumentierte, eine erhöhte Aufmerksamkeit für solche Fragen erwarten.

[1] Vertreter dieser Richtungen erscheinen in kaum mehr überschaubaren Nuancierungen im Internet. Endzeittheologien können in einschlägigen evangelikalen Seiten wie z.B. http://www.amzi.org/ eingesehen werden. Um sich einen immer noch aktuellen Überblick über Begrifflichkeiten und Definitionen zu verschaffen, soll hier auf Martin E. Marty und R. Scott Appleby: Herausforderung Fundamentalismus: Radikale Christen, Moslems und Juden im Kampf gegen die Moderne, Frankfurt am Main: Campus 1996 verwiesen werden.

Hinzugefügt am 23. Mai 2008 | Regine