Das ManifestPDF

Lucien Febvre, einer der beiden Gründer der mittlerweile legendären historischen Zeitschrift Annales, bezeichnete in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France Geschichte als eine „Geschichte des Menschen“. [1] Es macht den besonderen Reiz der Regionalgeschichte für ein breiteres Publikum aus, dass die Akteure dieser Geschichte nicht nur die großen Männer sind, sondern häufig auch die sonst namenlosen „einfachen Leute“. Der Reiz der Regionalgeschichte liegt aber auch darin, dass ihre Orte bekannt sind und der Klang ihrer Begriffe vertraut wirkt. Die mit der Regionalgeschichte verbundene Möglichkeit, sich selbst historisch zu verorten, trägt gerade in Zeiten unsicherer Identitäten dazu bei, dass sie nicht nur beim Publikum eine gewisse Konjunktur erfährt. Diese Möglichkeit hat ebenso zur Folge, dass sich vielerorts Forscher und Autoren außerhalb des akademischen Betriebes engagieren, um die eigenen historischen Wurzeln frei zu legen.

Doch auch wenn die Historiographie diesen Autoren Arbeiten von teilweise erheblicher Qualität verdankt, geht unser Anspruch an Regionalgeschichte über den einer Heimatgeschichte hinaus. Regionalgeschichte bedeutet für uns auch die Möglichkeit, aus einem überschaubaren Kontext heraus exemplarische Fallstudien zu erstellen. Gut gemachte Fallstudien lassen Gemeinsamkeiten und Besonderheiten der regionalen Verhältnisse mit übergreifenden Zusammenhängen erkennen und binden so die Regionalgeschichte in ihr Umfeld ein. Dieses Vorgehen kann auch beinhalten, die Tragfähigkeit von umfassenden Hypothesen am Einzelfall zu prüfen und zur Diskussion zu stellen. Schlecht verstandene Einbindung der Regionalgeschichte hingegen nimmt die Eigenlogik ihres Gegenstandes nicht ernst; sie entnimmt ihm statt dessen einzelne Fakten, um diese dann in ein ideologisch inspiriertes Konstrukt einzubauen.

Die bremische Regionalgeschichte ist aus vielerlei methodischen und inhaltlichen Gründen der näheren Betrachtung wert. Die klaren Grenzen der Stadt und ihre guten Archivbestände vereinfachen die Heranziehung des Materials für exemplarische Fallstudien. Darüber hinaus bilden die besonderen Verhältnisse der bremischen „Kaufmannsrepublik“ geradezu ideale Laborbedingungen für die Verifizierung gängiger Theorien um bürgerliche Entwicklung, Aufklärung und Säkularisierung.

Der zweite Mitbegründer der Annales, Marc Bloch, sprach von der Notwendigkeit, den Forschungsgegenstand in Abhängigkeit zur Fragestellung immer wieder neu zu verorten:

Warum sollte man verlangen, daß der Jurist, der sich für den Feudalismus interessiert, der Wirtschaftswissenschaftler, der die ländlichen Besitzverhältnisse in moderner Zeit studiert, und der Philologe, der über Dialekte arbeitet, daß sie alle vor identischen Grenzen halt machen? [2]

Unter dieser Perspektive ergeben sich schon auf den ersten Blick vielversprechende Möglichkeiten zur Einbettung bremischer Regionalgeschichte. Im religiösen Kontext bildete das calvinistische Bremen die nordöstliche Spitze eines mitteleuropäischen Dreieck mit Holland und der Schweiz. Angelsächsische Einflüsse, sichtbar etwa im Pietismus, verweisen auf die pragmatische Dimension der Handelsbeziehungen in Fragen der Religionsgeschichte. Geraten die wirtschaftlichen Netzwerke in den Fokus, so erscheint Bremen vor allem in seiner Scharnierfunktion zwischen dem westfälischen Hinterland und den atlantischen und baltischen Räumen im Zusammenspiel mit den „Schwesterstädten“ Hamburg und Lübeck. Lange Zeit – selbst nach dem Niedergang der Hanse – waren diese geografischen Räume durch kulturelle, religiöse, linguistische oder kulinarische Gemeinsamkeiten geprägt. Auf der politischen und rechtlichen Ebene war Bremen – trotz eines noch heute allgegenwärtigen Mythos der politischen Autonomie – Bestandteil der Deutschen Kaiserreiche und definierte sich in Auseinandersetzung mit deren Einflüssen und Institutionen.

Ist der Forschungsstand zu diesen übergreifenden Kontexten auch eher ein Desiderat zu nennen, so nehmen die Grundlagenforschungen zur bremischen Geschichte dagegen einen breiten Raum ein. Seit dem 18. Jahrhundert haben Gelehrte dieser Stadt vorbildliche Archive eingerichtet, Dokumente aufgearbeitet und ein umfassendes Schrifttum zu den verschiedensten Aspekten der Stadtgeschichte produziert. Allerdings ist der Faktor der Religion, der spätestens seit der Reformation immer wieder eine wichtige Rolle bei gesellschaftlichen Transformationen besetzte, von der akademischen Forschung kaum als solcher ernsthaft wahrgenommen und analysiert worden.

Seit den 1980er Jahren kennt die Religionsforschung auch den methodischen Ansatz der „Lokalen Religionsgeschichte“, der Religion aus den Heiligen Schriften heraus zu den praktizierenden Gläubigen vor Ort transportiert. [3] In diesem Sinne begreifen wir die bremische Religionsgeschichte weniger als eine dogmatische Auseinandersetzung, sondern vielmehr als einen Schlüssel zum besseren Verständnis der sozialhistorischen Entwicklung Bremens.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kann so manche Fragestellung der bremischen Kulturgeschichte in einem neuen Licht erscheinen. Jenseits des ideologischen Paradigmas der unabhängigen und liberalen Hansestadt deuten sich Konturen einer anderen, kulturgeschichtlichen longue durée in Bremen an, die wechselhafte Zeitläufte überdauert hat. Angesichts sich heute vollziehender gesellschaftlicher Umbrüche verraten uns solche Konturen etwas darüber, wer wir sind. Keineswegs verstehen wir aber den Rückgriff auf die Geschichte als einen Rettungsanker in der Not, sondern vielmehr als eine Aufforderung, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen.

[1] Lucien Febvre: Ein Historiker prüft sein Gewissen. Antrittsvorlesung am Collège de France 1933. In: Fernand Braudel [et al.]: Der Historiker als Menschenfresser: Über den Beruf des Geschichtsschreibers. Berlin: Wagenbach 1990, 15–29, 24ff.

[2] Marc Bloch: L’Ile de France : Les pays autour de Paris (Les régions de la France, IX). Paris: Mignot & Tallandier 1913, 122. Zitiert nach: Peter Burke: Offene Geschichte: Die Schule der „Annales“. Berlin: Wagenbach 1991, 20.

[3] Hans G. Kippenberg: Einleitung: Lokale Religionsgeschichte von Schriftreligionen. Beispiele für ein nützliches Konzept. In: Derselbe und Brigitte Luchesi (Hg.): Lokale Religionsgeschichte. Marburg: Diagonal 1995, 11–20.