Projekte

Eine Kultur- und Sozialanthropologie der Aufklärung in Bremen

Durchführung: Tilman Hannemann

Aus der Perspektive der Gegenwart wird das Etikett „Aufklärung“ meist entweder auf einen Prozess innerhalb der Geistesgeschichte und der Naturforschung angewandt, in dessem Verlauf das methodische Instrumentarium von unüberprüfbaren Voraussetzungen befreit wurde und die Ethik sich im kategorischen Imperativ manifestierte – oder sie dient in einer programmatischen Aneignung von Geschichte zur Grundsteinlegung der Moderne, als das epistemologische und universale Alleingültigkeit beanspruchende Fundament, auf das basale Werte und Organisationsformen heutiger westlicher Gesellschaften zurückzuführen seien.

Beide Positionen – so berechtigt sie auf den ersten Blick für sich erscheinen – weisen bei näherer Betrachtung Defizite auf. Sie tendieren in der Regel dazu, Brüche und Widersprüche im Weltbild der aufklärerischen Protagonisten auszublenden: so etwa religiöse Prämissen, die oft allzu eilig als Randerscheinungen oder Verirrungen ohne Einfluss auf die allgemeine Marschrichtung der Aufklärer bewertet werden. Zudem lässt sich die Aufklärung als ein umfassender gesellschaftlicher Vorgang – begleitet von großflächigen gewalttätigen Konflikten in weiten Teilen Europas, Nordamerikas und den angrenzenden Regionen – nicht allein aus ihren literarischen Produkten heraus erklären. Der kognitive Horizont der Aufklärer war von einer Vielzahl weiterer institutionalisierter Faktoren bedingt. Zwar trägt die zweite Richtung einem solchen Rahmen scheinbar Rechnung, wenn sie diverse moderne gesellschaftliche Institutionen zum Produkt der Aufklärung erklärt. Diskussions- und Klärungsbedarf entsteht dann aber in der Frage, warum und auf welche Weise nur westliche Gesellschaften zu einer bestimmten Zeit institutionelle Spezifika entwickelt haben sollten, die sie vor dem Rest der Welt bis heute besonders auszeichnen – ja sogar, ob dies tatsächlich so der Fall war. Trotz des kategorischen Imperativs zog die aufklärerisch legitimierte mission civilisatrice des Kolonialismus im 19. Jahrhundert eine Blutspur hinter sich her. Der Verdacht auf eine Ursprungslegende der Moderne ist angesichts solcher Befunde nicht immer von der Hand zu weisen.

Die angesprochenen Problemkomplexe lassen sich in einer Frage zusammenfassen: Wie wurden Entwicklung und Institutionalisierung der Aufklärung – die allmähliche Diffusion rationaler Handlungsprämissen durch die Schichten der Gesellschaft – von bestimmten und beschreibbaren kulturellen und sozialen Konfigurationen geprägt oder gar initiiert? Zu dieser und zu ähnlich gelagerten Fragestellungen hat es so manche sozialhistorische, auf der Makroebene angelegte Untersuchung gegeben; erwähnt seien nur Ansätze, die ökonomische Transformationen des globalen Systems zugrunde legen. Tatsächlich fehlt aber den in großen Maßstäben operierenden Modellen, sobald sie auch soziokulturelle Faktoren einbeziehen sollen, bislang eine hinreichende empirische Grundlage. Methodisch empfiehlt sich also bei dieser Fragestellung das Instrument der Fallstudie, deren Ergebnisse – mit nötiger Sorgfalt interpretiert – empirisch abgesichertes Material und Hypothesen für Untersuchungen in anders gelagerten Kontexten bereitstellen können.

An anderer Stelle haben wir dargelegt, warum wir in der bremischen Geschichte besonders geeignetes Material für exemplarische Fallstudien sehen. Eine Gesamtgeschichte der bremischen Aufklärung liegt bisher nicht vor; diverse Einzelstudien widmen sich aber solchen Themen wie etwa herausragenden Persönlichkeiten, der Rezeption der französischen Revolution, Aspekten der Kirchenpolitik oder der Organisation des Zunftwesens. Die bremischen Aufklärer lasen zwar unter anderem Immanuel Kant, als Anwälte und Ärzte produzierten sie selber aber keine nennenswerte philosophische Literatur. Dennoch vollzog sich im calvinistischen Bremen innerhalb weniger Jahrzehnte ein tiefgreifender soziokultureller Wandel unter weitgehender Beibehaltung der grundlegenden politischen Organisationsformen, der sich auch in einer veränderten Wahrnehmung und Interpretation der Welt niederschlug. Schon aus diesem Grund liegt es also nahe, die gestalterischen Parameter der Aufklärung in Bereichen wie Recht, Religion, Sozialstruktur und Wirtschaft neu aufzusuchen und zu prüfen, welche Entwicklungen hier zwischen 1750 und 1820 stattfanden.

Einen ersten Beitrag zu einer solcher Kultur- und Sozialanthropologie der Aufklärung in Bremen stellt meine kürzlich erschienene Monografie zur Rezeption des tierischen Magnetismus in Bremen dar. Die Verortung einer medizinischen Heilpraxis in dem religiösen Koordinatensystem der beteiligten Akteure hat aufgezeigt, dass die klassischen Zuordnungen aufgeklärter Positionen nicht hinreichen, um den Konfliktverlauf um Mesmers Therapien in der Hansestadt befriedigend zu erklären. Unter dem oberflächlichen Konsens einer harmonisch kooperierenden Kaufmannselite offenbarte sich eine tiefgreifende Auseinandersetzung um die definitorischen Eckpunkte der idealen Gesellschaft, die vor allem in der besonderen religiösen Tradition Bremens begründet lag.

Die Anlage des Projektes erfordert ein Vorgehen in mehreren Einzelschritten. Im ersten Schritt wird es darum gehen, die Auswahl der gestalterischen Parameter methodisch zu begründen und vorläufige Befunde zur Diskussion zu stellen. Ein wichtiger Punkt wird darin bestehen, nach Wegen zu suchen, wie eine Beschreibung des umfassenden gesellschaftlichen Prozesses der Aufklärung das Paradigma der Erfolgsgeschichte einer bürgerlichen Elite überwinden kann. Auf dieser Grundlage können dann gezielte Recherchen im Archivbestand erfolgen (Gerichtsprotokolle, Rechtsgutachten, Geschlechtsregister, Zunftrollen usw.), die sich vor allem auf den Zeitraum zwischen 1780 und 1800 konzentrieren sollen.

Für eine erste thematische Orientierung sollte es zum jetzigen Zeitpunkt genügen, einige Problemkomplexe knapp zu umreißen: Es ist bekannt, dass politische Repräsentation in der Stadtrepublik Bremen innerhalb einer begrenzten Zahl von Verwandtschaftsgruppen aufgeteilt wurde. Weniger hinreichend untersucht sind jedoch die fließenden Selbstbilder, mit denen die Legitimiation dieser oligarchischen Form von Herrschaft erreicht wurde. Auch die Behandlung von Konfliktverläufen innerhalb der politischen und wirtschaftlichen Elite, Strategien der Allianzbildung, Aushandlung von Konsensentscheiden usw. sind in diesem Zusammenhang von Interesse. Die Analyse rechtlicher Entwicklungen, sowohl im Verfassungswesen als auch in der Gerichtspraxis, kann einen Einblick in die Vermittlung staatlicher Autorität in die Gesellschaft hinein vermitteln. Theologische Differenzen zwischen Vertretern der rationalistischen Schule und spiritistisch-chiliastischen Bewegungen, die die religiöse Landschaft im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts maßgeblich prägten, sind Indikatoren für Verschiebungen im sozialen Gefüge der Hansestadt. Neue Orientierungen des Handels ab 1750 zogen nachhaltige Veränderungen in der demografischen Zusammensetzung und der Geldwirtschaft nach sich. Wesentliches Ziel des Projektes wird es sein, solche Einzelfaktoren in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit darzustellen und so ein repräsentatives Beispiel für den gesamtgesellschaftlichen Diskursverlauf der Aufklärung zu erarbeiten.