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Albert Kalthoff und die Freireligiöse Bewegung

Durchführung: Thomas Auwärter

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts präsentierte sich der „Markt der religiösen Sinnstifter“ kaum anders, als in der Gegenwart: Die etablierten Kirchen hatten an Einfluß verloren und neue Angebote warben um die Gunst der Sinnsucher. Einer aus der verwirrenden Vielfalt dieser Anbieter nannte sich selbst die „Freireligiöse Bewegung“. Sie war Teil eines umfassenderen freigeistigen Spektrums. Um 1900 war sie durch ihre organisatorische Nähe zu den Freidenkern mit diesen nahezu deckungsgleich. Die Bewegung etablierte sich sowohl außerhalb als auch innerhalb der traditionellen Kirchen, geriet aber in beiden Fällen stets in Konflikte mit kirchlichen Gruppierungen. Wie die Anhänger des Spiritismus und der Theosophie gehörten die Mitglieder der Freireligiösen Bewegung in Deutschland dem Kreis der sogenannten „Unkirchlichen“ (Nipperdey) an. Die aus diesem Umfeld hervorgegangenen kulturellen Strömungen belegen die Anziehungskraft von Formen einer Religiosität, die sich als Alternative zur maßgeblichen, überwiegend christlich geprägten europäischen Tradition formierte.

Einer der exponiertesten Vertreter der Freireligiösen Bewegung in Bremen und darüber hinaus war Albert Kalthoff. Er war 1850 im pietistischen Barmen bei Wuppertal geboren worden. Nach einem Studium der evangelischen Theologie in Berlin trat er mit 25 Jahren seine erste Pfarrstelle in Brandenburg an und wurde dem dortigen Kirchenregiment sogleich zum Ärgernis. 1878 leitete man gegen ihn ein Disziplinarverfahren wegen „strafbaren Trotzes“ ein. Schon früh entwickelte Kalthoff Charaktereigenschaften, die so gar nicht zum Klischee des mit dem nationalstolzen Zeitgeist infizierten evangelischen Pastors der wilhelminischen Epoche passen wollen. Nach langen Wanderjahren während derer er sich u.a. als Prediger in öffentlichen Parks, Kneipen, in Sprechsälen oder einfach an Straßenecken durchschlug, gelang ihm der Wiedereinstieg in ein Pfarramt, zunächst in der Schweiz, dann in Bremen. Über seine Bremer Zeit berichtet der Essay im Anhang dieser Projektbeschreibung.

Im Fokus des Projektes steht die Frage, unter welchen Bedingungen sich Individuen vom vorherrschenden Zeitgeist frei machen konnten, eine Fragestellung, die aus der These hervorgeht, daß es nicht nur im Charakter und den psychischen Dispositionen eines Mannes wie Albert Kalthoff begründet liegt, wenn er sich unter seinen um 1900 überwiegend nationalistisch gesinnten Pastorenkollegen als eine große Ausnahmeerscheinung zeigt. Die Bedeutung Kalthoffs für unsere Zeit liegt nicht etwa in einem bleibenden wissenschaftlichen Wert seiner zahlreichen Veröffentlichung zum Christentum begründet, sondern in seiner Persönlichkeit, und hier gerade in deren oppositionellen Aspekten.

Theoretisch geht es um den geistigen Gehalt (das kognitive Potential) der Epoche um 1900, von dem wissenschaftliche und intellektuelle Entwicklungen abhängen und den sie zugleich mit umschreiben.

Unter einer „historischen Epistemologie“, die den religionswissenschaftlich-methodischen Schwerpunkt des Projektes bildet, wird ein neuerer Forschungszweig der Kulturwissenschaften verstanden, der sich mit der Rekonstruktion historisch-kultureller „Bedingungen der Möglichkeit“ des Denkens, Erkennens und der Erkenntnisrepräsentation in unterschiedlichen Diskursen und Lebenswelten befaßt sowie mit dem Problem, auf welchem Reflexionsniveau der Wissenstand, die Grenzen des Wissens und überhaupt die Vorstellungswelten einer Zeit kulturspezifisch entwickelt und repräsentiert werden können. Die Frage, wie sich religiöse Orientierungen im Zusammenhang der Erkenntnisrepräsentation auswirken, gilt es letztlich unter kultur- und religionswissenschaftlichen Gesichtspunkten zu beantworten.

In diesem Zusammenhang gilt es, die Unterschiede zwischen historisch-epistemologischen und diskurstheoretischen Untersuchungen zu verdeutlichen. In einer Gemengelage verwirrend vielfältiger religiös relevanter Konzepte, Symboliken, Strömungen, Bewegungen, Lebensformen, Mentalitäten, Diskurse und wissenschaftlicher Entwicklungen möchte man Orientierung gewinnen und Tendenzen weltanschaulicher Betrachtungsweisen erkennen. Ein Problem älterer Weltanschauungsanalysen war ihr polemischer Impetus, der der Theologie oft jede Rationalität abspricht. Eine historische Epistemologie macht im Gegensatz dazu diese Polemiken selbst zum Gegenstand der Analyse, bzw. kann die weltanschauliche Bedingtheit von Zuordnungen verschiedener Positionen zum „Rationalismus“ oder „Irrationalismus“ aufdecken. Überblickt man die Diskurslandschaft um 1900 als Ganze, so erkennt man zwar rational-wissenschaftliche und idealistische (darunter „alternativ“ spirituelle) Weltsichten, die in einem unausgleichbaren Spannungsverhältnis zueinander stehen. Es ist dabei aber zu bedenken, daß ein geistesgeschichtlich wahrnehmbarer Gegensatz zwischen Rationalismus und Irrationalismus weniger durch inhaltliche Faktoren entsteht, als durch jeweils polemische Ausrichtung der sich rational oder antirationalistisch ausgebenden Gruppen auf einen Gegner. Vielfach kann den Antirationalisten aus wissenschaftstheoretischer Distanz ein logischer Rationalismus kaum abgesprochen werden. Die historisch-epistemologische Potentialanalyse möchte mit diesen Differenzierungen eine Alternative zum Entscheidungszwang zwischen der These einer fortschreitenden „Entzauberung“ oder spirituellen „Wiederverzauberung“ als Kennzeichen der Moderne bieten. Orientierung in den geistigen Vorstellungswelten der Epoche zu finden, wird mithilfe der historischen Epistemologie dadurch möglich, daß die kognitiven Vorstellungsräume der kulturellen Epoche im Horizont des gesamten Spektrums der Symbolisierungsmöglichkeiten gewichtet werden

Neben der Rationalität als Bezugspunkt relevanter Äußerungen von Theologen und religiösen Intellektuellen ist auch die sozio-emotive Verwurzelung des Einzelnen, die mit erkenntnistheoretischen Problemen in einer engen Wechselwirkung steht, ein entscheidender Faktor der Entwicklung von individuellen Denkweisen. Die Denkwege religiöser Menschen sind nicht ohne das in sie hineinspielende Eigengewicht religiöser Emotionalität zu verstehen. Bestimmte institutionelle Bedingungen konnten – auch in Bereichen moderner funktional differenzierter Gesellschaften – das Überleben geistmetaphysischer Erklärungsmodelle fördern oder behindern. Wenn die Lehrfreiheit eines Akademikers eingeschränkt ist, so kann diese Situation auf emotionaler Ebene das Spektrum möglicher Denkweisen einschränken, da gruppenspezifisch erwartetes Verhalten bei Mißachtung sanktioniert werden kann. Zu denken wäre hier z. B. an Bekenntnisbindungen und religiöse Verpflichtungen von Studenten, Kandidaten und Professoren wie sie bis 1848 noch in den Statuten vieler, nicht nur theologischer Fakultäten verankert waren und auch nach ihrer Abschaffung im Streit um die Lehrfreiheit noch indirekt weiterwirkten.

Im Hintergrund steht bei noch tiefergehender Betrachtung letztlich die schwer zu beantwortende Frage, warum Menschen glauben bzw. nicht glauben. Damit wiederum ist die Frage nach der Wahrheit der Religion eng verknüpft.

Dieser Projektrahmen legt eine vergleichende Perspektive der Untersuchung von Albert Kalthoffs Wirken in Bremen nahe. Im Zentrum der Untersuchung sollen insbesondere die Umstände stehen, die Kalthoff in Konflikt mit der etablierten Bremer Pastorenschaft brachten. Vergleichbare Fälle aus der Zeit um 1900, wie der des Pastor Jatho in Köln, sollen mit in den Blick genommen werden.