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Humboldts Antipiraten-Allianz

Ein Dokument aus dem Bremer Staatsarchiv

Europa 1814 An dieser Stelle präsentieren wir ein Dokument aus dem Staatsarchiv Bremen, das von uns transkribiert und für die Veröffentlichung vorbereitet wurde. Der Text liegt in Wilhelm von Humboldts gesammelten Schriften nur in einer Entwurfsskizze vom Dezember 1817 vor [1]. Weitere Abschriften sind nach unserem Kenntnisstand zumindest in den Archiven Hamburg und Berlin nicht erhalten. Es handelt sich um ein Vertragsprojekt, das Humboldt Ende Februar 1818 auf den Londoner Konferenzen der vier europäischen Siegermächte (Großbritannien, Russland, Österreich und Preußen) in seiner Eigenschaft als preußischer Gesandter präsentierte. Am 22. notierte er noch in seinem Tagebuch: «Den ganzen Morgen am Piratenvertrag gearbeitet» [2]. Das Papier, mit nicht weniger als 50, teils kommentierten, Einzelparagraphen und zwei angefügten Konventionen, zielt zuallererst auf die Bildung einer gesamteuropäischen Allianz ab, um die Kaperfahrten Marokkos und der Regentschaften von Algier, Tunis und Tripolis zu unterbinden. Die politische Absicht geht aber deutlich über ein bloßes Verteidigungsbündnis hinaus; Humboldt propagiert ein «gemeinsames Sicherheitssystem» (Präambel), in dem die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien genau geregelt werden, und über die ein internationales Exekutivorgan, der in Paris residierende «Ministerrat» (Art. 46), wachen soll. Eine gemeinsame Flotte soll künftig unter der Führung eines nicht an nationale Kommandos gebundenen Admirals im Mittelmeer patrouillieren und im Bedarfsfall Strafaktionen gegen die «Barbareskenstaaten» ausführen.

Europa 1814Nach dem Sieg über Napoleon 1814 ordneten sich die politischen Kräfteverhältnisse neu: Das «europäische Konzert» versuchte sich in seinen ersten Takten. Zwischen den Kriegsparteien tobte zuvor ein erbitterter Kaperkrieg. Allein Großbritannien brachte zwischen 1801 und 1807 insgesamt 18.273 gegnerische Schiffe auf [3]. Vor diesem Hintergrund geriet auf dem Wiener Kongress 1814/15 die Forderung nach einer verbindlichen See- und Völkerrechtsordnung in die europäische Diskussion. Auf der Donau war wohl eine Einigung zu erzielen, aber in den Weiten der Weltmeere gerieten die nationalen Interessen aneinander. Vor allem der britische Hegemonialanspruch verhinderte ein internationales Abkommen gegen staatlich geförderten Kaper. Die Erwartungen in der öffentlichen Diskussion waren aber höher gesteckt. Noch auf dem Wiener Kongress verknüpften halbstaatliche Netzwerke wie die Chevaliers Libérateurs des Esclaves Blancs aussi-bien que des Noirs en Afrique die Frage der Piraterie mit den allseits geschätzten Initiativen William Wilberforces gegen die Sklaverei. Der Topos der in Nordafrika gefangen gehaltenen Matrosen, der «Christensklaven», bot einen idealen Hebel, um die Debatte voranzutreiben.

Johann Smidt Auch in den norddeutschen Hafenstädten Bremen, Hamburg und Lübeck fanden die Forderungen der Chevaliers Libérateurs Widerhall. So veröffentlichte 1816 das halboffizielle Sprachrohr des Bremer Senates für die deutsche Öffentlichkeit, die Bremer Zeitung, Auszüge aus einem «Briefe eines jungen Bremers aus einer sehr geachteten Familie». Dieser war mitsamt des dänischen Schiffes, auf dem er sich befand, im Vorjahr von einer tripolitanischen Fregatte gekapert worden und durch Vermittlung des britischen Vize-Konsuls vor Ort frei gekommen. Noch auf der Rückreise in die Heimat befindlich, richtete er den Appell an die europäische Öffentlichkeit, sich der in Nordafrika versklavten Europäer anzunehmen. Dabei wies er darauf hin, «daß die Europäer diesen Barbaren gegenüber ein Volk sind und mithin ein Nationalinteresse und eine National=Ehre zu vertheidigen haben.» [4] Am Deutschen Bund in Frankfurt bemühte sich der bremische Delegierte, Senator Johann Smidt, um Unterstützung gegen die Gefahr der nordafrikanischen Raubfahrer, die «Schrecken und Pest und Sklaverey auf den Küsten der Nord= und Ostsee […] verbreiten» [5]. Entwürfe zu einer ersten gemeinsamen deutschen Flotte kursierten unter den Gesandten der Einzelstaaten. Diesmal waren es also patriotische Visionen, die mit den Realitäten des europäischen Konzerts kollidieren sollten. Denn der engste Berater Metternichs, Friedrich von Gentz, wertete die Frankfurter Diskussion in einem Schreiben an den Fürsten der Walachei, Jean Georges Caradja, vor allem als eine Anmaßung dieses Gremiums, «sich entgegen seiner ursprünglichen Befugnisse die Entscheidungsgewalt über einen Gegenstand der allgemeinen Politik» sichern zu wollen [6].

FlotteEnde August 1817 fand sich Humboldt am Rande des Deutschen Bundes in Frankfurt ein, wo es zu einem Treffen zwischen ihm und Smidt kam. Hauptthema des Gespräches war die Frage gemeinsamer Maßnahmen des Bundes gegen die Barbaresken. Wie könnte der Deutsche Bund mit Unterstützung Preußens eine Flotte ausrüsten, die den politischen Forderungen militärischen Nachdruck verleiht? Smidt plädierte für ein kleines, im Mittelmeerraum operierendes Geschwader, das dem norddeutschen Handel die Seewege nach Lateinamerika offen halten würde [7]. Während noch in Frankfurt Humboldt dem nationalstaatlich orientierten Vorhaben Smidts zustimmte, präsentierte er wenige Monate später aber den Flottenplan als ein gesamteuropäisches Anliegen.

Wiener Kongress Viele Stimmen spielten damals mit im europäischen Konzert, so auch in der Barbareskenfrage. Österreich wollte den Malteserorden neu gründen und mit der Jagd auf Piratenschiffe beauftragen; der russische Zar Alexander I. wie auch der Kieler Gymnasialprofessor Friedrich Herrmann pflegten die Vision einer Kolonie christlicher Heilsbringer an den nordafrikanischen Gestaden. Im Hintergrund solcher Projekte, die auch unter dem Eindruck der Heiligen Allianz formuliert wurden, schwangen durchaus spürbar religiöse Endzeiterwartungen mit – eine politische Großwetterlage, die der britische Außenminister Castlereagh als «erhabene Mystik und Unvernunft» [8] würdigte. Angesichts der sowohl machtpolitisch wie auch konfessionell begründeten Positionen, die sich nicht vereinbaren ließen, besitzt das Vorhaben Humboldts, obwohl es sich nicht durchsetzen konnte, eine eigene, ganz besondere Qualität. Der preußische Gesandte hatte offenbar verstanden, dass sich die Gräben, die durch das europäische Orchester verliefen, nur mit einer profanen Agenda überbrücken ließen: den säkularen Werten der gemeinsamen Sicherheit und des freien Handels. Damit stellt der Humboldtsche Vertragsentwurf eine bedeutende Etappe in der prozesshaften Emergenz moderner säkularer Werte und Normen dar: Säkularisierung erscheint hier als Ergebnis einer politischen Pattsituation und der darauffolgenden Bemühungen um Interessenausgleich (vgl. auch Art. 49, Kommentar).

[1] Wilhelm von Humboldts gesammelte Schriften, Bd. 12, Abteilung 2, Politische Denkschriften III, Berlin: Behr 1904, 206–216.

[2] Wilhelm von Humboldts gesammelte Schriften, Bd. 15, Abteilung 3, Tagebücher II, 1799–1835, Berlin: Behr 1918, 476.

[3] Vgl. Walter Schmidt (Leiter der Autorengruppe): Deutsche Geschichte, Bd. 4, Die bürgerliche Umwälzung von 1789–1871, Berlin und Köln: Pahl-Rugenstein 1984, 75.

[4] «Africanische Raubstaaten», in: Bremer Zeitung, No. 2, 2. Januar 1816, 1.

[5] Protokoll der Sitzung des deutschen Bundes vom 17.07.1817. In: Protokolle der deutschen Bundesversammlung, 3. Band, 3. Heft, Frankfurt am Main: 1817, 461–463, 463, § 353.

[6] Gentz an Caradja, 01.08.1817, zitiert nach: Barbara Dorn: Friedrich von Gentz und Europa. Studien zu Stabilität und Revolution 1802–1822, Dissertation, Bonn, 1993, 287.

[7] Frank Eisermann: Johann Smidt und die „Barbareskenstaaten“ (1814–1820), in: Arbeiterbewegung und Sozialgeschichte 19 (2007), 5–34.

[8] W. Alison Phillips: «The Congresses, 1815–22», In: The Cambridge Modern History. Bd. 10, The Restoration, Cambridge: Cambridge University Press, 1907, 1–39, 10.



Vertragsentwurf

Wilhelm von Humboldt: Projet d’Alliance contre la Piraterie des Barbaresques (1817/18)


Hinzugefügt am 12. März 2009 | Tilman; Frank