Christival 2008

Wieviel Religion verträgt die Gesellschaft?

Kontroversen am Rande des Christivals

Christival Banner„Christival zum Dialog mit Andersdenkenden bereit“, titelte am 2. Mai 2008 der Nachrichtendienst Idea einen Beitrag zu einer Veranstaltung vom Jugendkongress. Kernaussage des Artikels war, dass in dem Forum zwei vormals Andersgläubige – eine ehemalige Buddhistin und ein Ex-„Animist“ – sowie ein „bekennende[r] Moslem […] ihre positive Grundhaltung zum Christival“ bekräftigten. Der Muslim forderte gar „die Christen dazu auf, ihren Glauben so zu leben, wie es Gott von ihnen erwarte. Sie sollten mutig für ihren Glauben einstehen und ihn da verteidigen, wo es gefordert sei.“ [1] Nicht überall verlief jedoch der Dialog mit der religionspluralen Gesellschaft in den harmonischen Bahnen, die sich die Veranstalter gewünscht hatten. Tatsache ist allerdings, dass die Konflikte am Rande aufbrachen und von vielen nicht wahrgenommen wurden. Hinter den medienwirksamen Reizthemen Abtreibung und Homosexualität wurden dabei andere, grundsätzlichere Probleme sichtbar.

Kantine 5, Dienstag vor dem Christival, 19.30 h: Seit einer halben Stunde ist die Kantine des alten Postamt 5, in der Nähe des Hauptbahnhofs, voll belegt. An einem Ort, der für gewöhnlich rauchfreie Tanzveranstaltungen aus dem weiteren Umfeld der Wellness-Esoterik beherbergt, haben sich ungewohnte Gäste eingefunden. Eine Podiumsdiskussion, veranstaltet vom Bremer Landesverband der Grünen Jugend, soll die Kontroversen im Vorfeld des Christival 2008 um Homosexualität, Abtreibung und biblisch begründete Positionen mit einem „offenen Dialog“ klären helfen. Auf der einen Seite befinden sich der grüne Bundestagsabgeordnete Volker Beck und Annegret Siebe, Sprecherin des Landesverbands der Pro Familia, auf der anderen der frischgebackene Pastor der altehrwürdigen Martinikirche, Olaf Latzel. Die Zusammensetzung des Publikums erinnert eher an eine Gemeindeversammlung; Kerzen und Salzstangen, drapiert auf Beistelltischchen, verleihen dem Saal ein Wohnzimmerambiente. Vereinzelte Nachzügler aus dem grünen Spektrum tragen von der Dachterrasse ein paar übriggebliebene Stühle hinein und sammelnPublikum sich schließlich stehend im hinteren Bereich und an der Theke. Einen „Hauch von Kulturkampf“ zwischen Bibelgläubigen und säkularen Kräften hatte am Vortag der Spiegel in der Stadt Bremen ausgemacht. [2] Nachdem der Moderator, ein Vertreter des Bundesvorstands der Grünen Jugend, die Spielregeln demokratischer Auseinandersetzung klarstellt, wird die erste öffentliche Runde dieses Kampfes vor Ort eingeläutet.

Es war aufschlussreich zu hören, wie Latzel – dem ja eigentlich die Rolle des Bibelgläubigen in der Diskussion zukam – zunächst durchaus säkulare Kategorien zur Bewertung der Diskussion im Vorfeld des Christival verwendete. Die Veranstalter hatten ein Seminar zurückgezogen, das die „Therapierung“ von Homosexuellen zum Gegenstand hatte. Dies sei aufgrund des öffentlichen Drucks in der Folge einer Anfrage Becks im Bundestag geschehen. Dieser Druck habe „Angst“ bei den Christival-Machern erzeugt und somit das Grundrecht auf Meinungsfreiheit infrage gestellt. Es könne daher auch keine Rede sein von einem Minderheitenschutz für jene Homosexuelle, die ein solches „Therapieangebot“ in Anspruch hätten nehmen wollen. Die Menschenrechte wurden im Gegenzug aber auch von Siebe herangezogen – schließlich gäbe es seit 1994 international verankert das Recht auf sexuelle und reproduktive Gesundheit, das auch ein Recht auf Abtreibung einschließe. Darauf angesprochen, dass auch kirchliche Stellen ergebnisoffene Beratung für schwangere Frauen anbieten,Olaf Latzel entgegnete Latzel, dass er zwar nicht über das Christsein anderer urteilen wolle – doch es seien „falsche Dinge geschehen“ in der Diakonie, die zu einer „Firma ohne Evangelium“ geraten sei. Dies „müssen wir zurückfahren.“ In einem weiteren säkular begründeten Argument setzte er hinzu, dass die Gesellschaft schließlich Menschen bräuchte, „um unsere Renten zu finanzieren“, was ihm den Vorwurf eines „ethischen Offenbarungseids“ seitens Beck eintrug.

Der anschließende Diskussionsverlauf zur Frage der Homosexualität entwickelte sich zu einem spannenden Schlagabtausch konträrer Ansichten über das Verhältnis von Religion und staatlicher Gesetzgebung. Latzel vertrat hier durchaus provokante Thesen; er hielt allerdings seine Argumentation angesichts kritischer Nachfragen nicht stringent durch. Zunächst stellte er seine Lesart der Bibel dar – Homosexualität sei „nicht zielführend“ und von daher eine Sünde. Alle anderen Interpretationen seien eine „Milchmädchenexegese“; schließlich gelte, dass die Bibel „ein Gesetz für unser Leben“ darstelle. Auf den Einwurf Becks, dass er sich mit dieser Äußerung außerhalb des Grundgesetzes gestellt habe, entgegnete Latzel in einer sehr emotionalen Rede, das Christentum habe schließlich das Grundgesetz „mit gemacht“, doch sei die Gesellschaft anschließend in eine andere Richtung gedriftet: „Wir werden an den Rand gedrängt, wir müssen aber auch unseren Platz haben!“Volker Beck Konkret bedeute dies, dass aus der christlichen Dogmatik eine Ethik abgeleitet werden solle, die anschließend in die Gesetzgebung einfließen müsse. Dem gegenüber betonte Beck das „Erbe der Aufklärung“. Vernünftig sei es, die Menschenrechte aller zu respektieren; in einer Gesellschaft, in der auch Nichtchristen leben, „müssen allgemeine Regeln für alle gelten“. Und schließlich rede auch keiner mehr von den Körperstrafen des Alten Testaments!

Offenbar hatte Latzel bemerkt, dass er mit seinen Forderungen über das Ziel hinausgeschossen war, und suchte in der anschließenden Diskussion seine Position zu relativieren. Er bestritt, „Politik machen“ zu wollen und betonte, dass sich für den Christen „jede Form von Gewalt“ verbiete. Was er für Deutschland wolle, sei ein „säkularer Staat mit christlich-abendländischer Prägung“, alle anderslautenden Äußerungen des Abends bezögen sich allenfalls auf eine hypothetische Gesetzgebung in einem hypothetischen Land. Mit der Feststellung, dass die alttestamentarischen Gesetze „für Jesus nicht gültig“ seien, zog er sich jedoch lediglich auf eine klassische Position der dispensationalistischen Heilslehre zurück. Auf die neutestamentarische Aufforderung Eph 5,21–24 angesprochen, wonach Frauen sich ihren Männern unterzuordnen hätten,Olaf Latzel betonte Latzel hingegen die nachfolgende Verpflichtung des Mannes, seine Frau zu heiligen und die naturgegebenen Unterschiede der Geschlechter, die sich in dieser Schriftpassage ausdrückten. Hier konnte er nicht vom Primat der Schrift als regelgenerierender Instanz abrücken und argumentierte daher ähnlich apologetisch wie viele Muslime bei der Rechtfertigung vergleichbarer Vorschriften islamischen Rechts.

Insgesamt wurde in dieser Veranstaltung deutlich, dass beide Seiten durchaus bedacht waren, ihre Argumente in einer der jeweiligen Gegenseite nachvollziehbaren Weise zu präsentieren. So wie Latzel streckenweise die Menschenrechte für seine Anliegen bemühte, so erwies sich auch Beck als recht findig, wenn es darum ging, dem Pastor und seiner Gemeinde die Bibel zu erläutern. Dieser Umstand ist unabhängig von der Frage, ob instrumentalisierende Absichten oder ein tatsächliches Verständnis für die Anliegen des jeweils Anderen die Gesprächsstrategien bestimmten, festzuhalten. Mit seiner unklaren Argumentation trug Latzel allerdings nicht dazu bei, die Vorbehalte gegenüber dem neuen evangelikalen Engagement in Politik und Gesellschaft zu entkräften. Es überrascht nicht, dass die Debatte vom Dienstag abend noch während des Christivals ein kräftiges Nachspiel zeitigte.

Samstag, der 03.05., 22.00 h, langsam füllt sich die Glocke. In wenigen Augenblicken soll hier der letzte inhaltliche Höhepunkt des Christivals vor dem Abschlussgottesdienst am Sonntagmorgen stattfinden.Mission Während die Begegnungen des Christivals mit der Mehrheitsgesellschaft in den vergangenen Tagen sich auf mehr oder minder geglückte Missionierungsversuche der zumeist jugendlichen Festivalbesucher beschränkten, werden an diesem Abend prominente Vertreter der evangelikalen Szene mit dem wohl auch außerhalb Bremens bekanntesten Bürger dieser Stadt, ihrem ehemaligen Bürgermeister und Senatspräsidenten Henning Scherf, zu einer Gesprächsrunde zusammen kommen. Scherf, bekannt als praktizierender Christ, war – wie viele seiner Vorgänger im Amt – stets bemüht, auch Außenseiterpositionen durch einen Dialog in den städtischen Konsens einzubinden und ebnete wohl auch deshalb den Veranstaltern des Christivals noch zu seinen eigenen Amtszeiten den Weg nach Bremen. [3] Somit konnte von Seiten der Veranstalter dem Gast Scherf durchaus ein gewisses Wohlwollen, zumindest ein erhebliches Maß an Offenheit unterstellt werden. Angesichts der Aufregungen im Vorfeld des Christivals scheinen damit die Voraussetzungen für einen offenen Dialog zwischen Trägern des Christivals und einem Vertreter der Mehrheitsgesellschaft an diesem Abend denkbar günstig.

WertetalkTatsächlich aber plätscherte das von Nick Leifert, dem Leiter des ZDF-Landesstudio in Bremen moderierte Gespräch zum Thema „Christliche Werte in der Gesellschaft“ zunächst nur so dahin. Sabine Ball, ehemalige Millionärin und Gründerin des bundesweit beachteten evangelikalen Jugendprojektes Stoffwechsel, Ralf Knauthe, seit 2005 Leiter dieser Einrichtung, Prinz Philip Kiril von Preußen, Jens Sembdner von den Prinzen und Hartmut Steeb, Generalsekretär der Evangelischen Allianz berichteten vor allem von ihren jeweiligen Begegnungen mit Jesus und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für ihr Leben. Dabei war auffällig, dass die Beiträge sich in keinerlei Form auf die Vorredner bezogen. Und auch als Scherf – quasi in Umkehrung des gemeinsamen Grundmusters – darstellte, wie er, statt Pastor zu werden, in die Politik gegangen sei und er diese Umorientierung auch nach Abschluss seiner aktiven Laufbahn als glückliche Fügung empfand, nahm die Runde diesen Ball keineswegs auf. Zu sehr wirkte sie von ihrer jeweiligen direkten Beziehung zu Gott in Beschlag genommen, als dass da noch Raum gewesen wäre für andere Lebensentwürfe. Und so war es auch Scherf, der – nachdem Leifert ein paar Flaschen Wasser, die fast eine Stunde für die Talkgäste nicht erreichbar waren, nach vorne rückte – noch den Blick frei hatte für Profanes, der 82-jährigen Ball ein Glas einschenkte und zur Erfrischung reichte.

PrinzWeder übermäßiger Respekt vor der Person des ehemaligen Landesvaters noch Dankbarkeit für die im Vorfeld des Christivals geleistete Unterstützung veranlasste die Talkrunde dazu, Kritik an den Positionen Scherfs zurückzuhalten. Dies sollte sich in der Abschlussrunde zeigen, die von einer völlig unerwarteten Dynamik gekennzeichnet war. Sie wurde ausgelöst von der Frage Prinz Philips an Scherf, ob er wie der Bremer Fußballprofi Ivan Klasnic, der vor Betreten des Spielfeldes sich bekreuzigen würde, dieses auch im Parlament, der Bremer Bürgerschaft, getan hätte. In seiner Antwort machte Scherf deutlich, dass er sich immer als Bürgermeister der ganzen Stadt und nicht nur einer Gruppe von Menschen verstanden habe. Er habe seine „Voreingenommenheit nie nach vorne schieben wollen“ und sich immer mehr für die interessiert, die Fragen stellen und unsicher sind, als die, die immer schon eine Antwort parat hätten. Mit diesem Hinweis deutete Scherf mehr als an, dass er hier nicht einfach nur das Neutralitätsgebot des Staates verteidigte, sondern auch einen absoluten Wahrheitsanspruch in religiösen Fragen zurück wies.

ScherfHier widersprach Prinz Philip vehement. [4] Ausgehend von einem – wie er es nannte – „biblischen Verständnis“ sei nur der Christ, „der Jesus als den einzigen Weg zu Gott anerkenne und eine persönliche Beziehung zu ihm habe.“ Zudem gehöre es zum Christsein dazu, dieses auch öffentlich zu bekennen. Je exponierter die gesellschaftliche Stellung sei, umso wichtiger sei dieses Bekenntnis. Mit der rhetorischen Frage: „Wo sind wir hingeraten, dass wir uns dafür entschuldigen, dass wir mit Ernst Christen sind?“, verdeutlichte Prinz Philip zudem, dass er die von Scherf vertretene Zurückhaltung hinsichtlich öffentlicher religiöser Bekenntnisse keineswegs als theologisch mögliche Haltung akzeptieren wollte, sondern sie vielmehr als ängstliches Zurückweichen, als „Wischi-Waschi“ verstand.

Anschließend thematisierte Leifert die von Pastor Latzel auf der eingangs erwähnten Veranstaltung erhobene Forderung, die Bibel solle verstärkt als Grundlage des Rechtswesens herangezogen werden. Latzels Anliegen fand in der Runde allgemeine Zustimmung. Wechselten schon während der Ausführungen von Prinz Philip die Gesichtszüge Scherfs zwischen unendlicher Müdigkeit und blankem Entsetzen, wurde der ehemalige Landesvater nunmehr nicht nur im Ton schärfer, sondern auch lauter: Seit Kaiser Konstantin, „diesem Verbrecher“, habe es immer wieder Versuche gegeben, Staat und christliche Religion zu vermengen. Dieses sei immer zu Ungunsten des Christentums erfolgt. Es sei schließlich „die Religion der Mühseligen und Beladenen“. Doch waren es vor allem die Mächtigen, die die Verbindung von Staat und Religion aus politischen und wirtschaftlichen Partikularinteressen heraus betrieben hätten. Dass es für ihn kein Zurück hinter der bisher erreichten Trennung von Staat und Kirche geben könne, unterstrich Scherf noch einmal abschließend mit den Worten: „Es sind diese Khomeinis, vor denen wir unsere Verfassung schützen müssen. Das können Sie Ihrem Pastor Latzel ausrichten!“

Mit diesem Eklat erlebte das Christival, angesichts des von seinem Leiter Roland Werner und anderen eingeforderten Anspruchs, sich der Gesellschaft zu öffnen und in den Diskurs mit ihr zu treten, ein selbstgemachtes Fiasko. Selbstgemacht deshalb, weil es dieser mit exponierten Vertretern der evangelikalen Bewegung besetzten Runde nicht möglich war, den von der Mehrheitsgesellschaft eingeforderten Pluralismus zu praktizieren, und dies selbst gegenüber einem grundsätzlich wohlwollenden Vertreter derselben. Ob dies ein strukturelles Problem ist, wird die Zukunft zeigen. Mut für anderwärtige Hoffnungen hat dieser Abend allerdings nicht gemacht.

[1] Christival zum Dialog mit Andersdenkenden bereit. Idea Nachrichtendienst, 02.05.2008.

[2] Peter Wensierski: Aufschwung Jesu. In: Der Spiegel, Heft 18, 28. April 2008, 38–41, 38.

[3] Vgl. aufblick: Tschüß Bürgermeister Scherf – Christival kommt, Eintrag vom 18.11.2005.

[4] Vgl. auch Prinz von Preußen: Politiker, steht zu eurem Glauben!, Idea Nachrichtendienst, 04.05.2008. Obwohl die Veranstaltung einen vergleichsweise breiten Raum einnimmt, wird hier mit keinem Wort auf den abschließenden Eklat eingegangen. Von den Print-Medien wurde die Talk-Runde in der Glocke nicht wahrgenommen.

Hinzugefügt am 21. Mai 2008 | Frank; Tilman